Mit seinen Büchern begründete Johann Joachim Winckelmann die moderne Kunstwissenschaft, wie eine sehenswerte Ausstellung in Chiasso zeigt. Sie regt dazu an, in der Pompeji-Literatur zu blättern.
Die künstlerische Moderne begann mit dem Klassizismus. Eines seiner Fundamente legte Johann Joachim Winckelmann mit der 1755 in Dresden erschienenen Schrift «Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst». Bald übersiedelte er nach Rom und befeuerte 1762 mit seinen «Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen» das Interesse der Gebildeten an den kurz zuvor am Vesuv begonnenen Ausgrabungen – und dies, obwohl das kleine Buch nur mit dem Stich einer von ihm heimlich vor Ort gemachten Zeichnung illustriert war. Denn bebildert werden durften damals einzig die teuren, vom Hof in Neapel herausgegebenen Publikationen. Sie waren aber in einem trockenen, antiquarischen Ton geschrieben. Ganz anders Winckelmanns leidenschaftliches, kleines Buch: Es sprühte trotz aller Wissenschaftlichkeit nur so von Lebhaftigkeit und Eros.
Auch Winckelmanns Hauptwerk, die zweibändige «Geschichte der Kunst des Altertums», war zugunsten prägnanter Formulierungen nur mit einigen Vignetten geschmückt. Doch auch Winckelmann konnte sich dem Trend hin zu illustrierten Werken nicht länger verschliessen. Kurz vor seinem tragischen Tod am 8. Juni 1768 veröffentlichte er die über Italien hinaus lange kaum zur Kenntnis genommenen «Monumenti antichi inediti» mit über 200 grossformatigen Bildtafeln. Diesem frühen Beispiel einer illustrierten kunstwissenschaftlichen Publikation widmet nun das Max Museo in Chiasso eine eindrückliche Schau. Sie steht im Zusammenhang mit dem 300. Geburtstag des am 9. Dezember 1717 in Stendal geborenen Begründers der modernen Kunstgeschichte. Gezeigt werden alle Drucke, zahlreiche Kupfertafeln, Manuskripte sowie einige Kunstwerke aus dem Archäologischen Nationalmuseum in Neapel, darunter das kleine Fresko mit dem trojanischen Pferd aus der im Jahre 1760 in Pompeji entdeckten Casa des Cipius Pamphilius.
Dieses Fresko dürfte Winckelmann gesehen haben, auch wenn er damals noch nicht wissen konnte, dass es aus Pompeji stammte. Denn die erste Pompeji-Inschrift kam erst 1763 ans Tageslicht. Sie bestätigte erstmals, dass es sich bei der Fundstätte südöstlich von Herculaneum, auf die der grosse Tessiner Architekt Domenico Fontana schon 1592 gestossen war, um Pompeji handelte. Danach schritten die Ausgrabungen der antiken Handelsstadt schnell voran. Junge französische Künstler und Architekten, die dank dem Prix de Rome in der Ewigen Stadt studierten, begannen die Haustypen zu erforschen, die Stile zu unterscheiden, die Fresken zu entschlüsseln, die baulichen Überreste zu dokumentieren und diese bald darauf in Plänen und grossartigen aquarellierten Zeichnungen zu rekonstruieren.
Solche Blätter, die kürzlich in einer Schau im Cabinet des Dessins der Pariser Ecole des Beaux-Arts zu sehen waren, begründeten in Frankreich nicht nur die in der Maison pompéienne von Jérôme Napoléon kulminierende Pompeji-Mode, sondern auch den Wunsch nach schön bebilderten Publikationen. Denn man wollte sich ein möglichst authentisches Bild von den im August 79 n. Chr. zerstörten Städten und ihrer Umgebung, vom Luxus der Oberschicht, aber auch von dem in erschütternden Gipsabgüssen festgehaltenen Todeskampf der Menschen machen.
Bereits unter Napoleon wurde die lange vom Königshaus in Neapel gebremste Erforschung der Ruinenstädte vorangetrieben; und Caroline Murat finanzierte die Herausgabe von François Mazois' «Ruines de Pompéi». Dann führte die gerade erfundene Farblithografie zu neuen illustrierten Publikationen, darunter etwa Wilhelm Ternites seit 1839 veröffentlichte «Wandgemälde aus Pompei und Herculaneum in Farbe». All diese Prachtsbände zu übertreffen versuchten schliesslich «Le Case ed i monumenti di Pompei disegnati e descritti» von Fausto und Felice Niccolini.
Nun hat der Taschen-Verlag die über 400 aus Umrissstichen und Farblithografien bestehenden Tafeln in einer Neuausgabe zugänglich gemacht – allerdings ohne die langfädigen Einführungen, Erläuterungen und Kommentare. Nur so war es möglich, das zwischen 1854 und 1896 in zahlreichen Lieferungen publizierte Monumentalwerk in einem einzigen, grossformatigen Buch zu vereinen. Das ist mehr als verdienstvoll, denn die kostbaren, zuvor nur in wenigen Bibliotheken zugänglichen Niccolini-Bände dokumentieren den damals noch guten Zustand der wichtigsten Privathäuser und aller öffentlichen Bauten mittels Plänen, zeitgenössischer Ansichten und Rekonstruktionen. Sie vereinen aber auch die kostbarsten Fresken und Skulpturen sowie die bemerkenswertesten Alltagsgegenstände. Selbst wenn die Präsentation nicht immer logisch und konsequent sein mag, ermöglicht sie doch eine Zusammenschau, die nicht einmal die opulenten Bildbände von heute bieten können. Das macht das Werk der Niccolini-Brüder so kostbar.
Die Winckelmann-Ausstellung in Chiasso dauert bis 7. Mai. Katalog: J. J. Winckelmann (1717–1768). Monumenti antichi inediti (ital., engl.). Skira, Mailand 2017. 336 S., Fr. 36.–. Pompéi à travers le regard des artistes français du XIXe siècle. Editions Beaux-Arts de Paris, Paris 2016. 101 S., € 25.–. Fausto & Felice Niccolini: Houses and Monuments of Pompeii (engl., dt., franz.). Verlag Taschen, Köln 2016. 648 S., Fr. 200.–.